Emil Ferris: "Am liebsten mag ich Monster"

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Chicago, Frühjahr 1968. Es ist das Jahr, in dem Martin Luther King ermordet wird. Die zehnjährige Karen Reyes begeistert sich für Kunst: Sie saugt die Bilder so sehr in sich auf, dass bestimmte Stimmungen für sie nach bestimmten Gemälden riechen. Sie kann die Bildwelten geradezu begehen.

Fast noch mehr begeistert sie sich aber für Horrorcomics und Horrorfilme. Ihre Sympathie gilt den Monstern, den melancholischen Wiedergängern und tragischen Figuren. Sie identifiziert sich so sehr damit, dass sie am liebsten selbst ein Werwolf wäre, denn dann könnte sie aus ihrer Familie - sie lebt gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrer Mutter eher schlecht als recht - eine Werwolf-Familie machen. Bekanntlich leben die Untoten ja ewig.

Zur Nachbarin Anka Silverberg unterhält sie eine Treppenhausfreundschaft, doch eines Tages wird die Freundin tot aufgefunden. Die Polizei geht von Selbstmord aus. Darauf will es Karen aber nicht bewenden lassen. Sie wirft sich einen Trenchcoat im Stil von Humphrey Bogart über und forscht auf eigene Faust weiter, stößt dabei auf Audiokassetten, denen Anka ihre Lebensgeschichte anvertraut hat: Sie ist eine Überlebende der Shoah, hat im Berlin der 20er und 30er Zwangsprositution erlebt und wurde antisemitisch terrorisiert. Die wahren Monster - die bösen Monster - leben in der Wirklichkeit.



"Am liebsten mag ich Monster" ist ein erstaunliches Debüt: Emil Ferris ist auf Anhieb ein Meisterwerk gelungen. Zehn Jahre hat sie eigener Auskunft danach gearbeitet, 55 Jahre alt war sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Mit ihrer Heldin teilt sie das ungefähre Alter, die Herkunft "Chicago" und die Begeisterung fürs klassische Horrorkino.

Aber trashig ist "Am liebsten mag ich Monster" nicht geworden. Es geht nicht darum, Referenzen und Anspielungen für kundige Nerds unterzubringen. Ferris erzählt vielmehr eine dichte, anspruchsvolle Geschichte über Ausgegrenzt-Sein und Empathie, über das Erwachsenwerden in einer Welt, in der man vorn vorneherein der Ausgegrenzte ist: Karen entspringt einer halbmexikanischen Familie und entdeckt gerade ihre lesbische Neigung. Für einen ihrer Freunde bricht die Welt zusammen, als er - schwarz und schwul - vom gewaltsamen Tod Martin Luther Kings erfährt.

Auch ästhetisch ist alles an diesem Comic außergewöhnlich: Wie ein Ringblock mutet er an, wie ein Notizbuch, in dem eine Zehnjährige ihren Alltag dokumentiert. Tagebuchartige Passagen wechseln sich ab mit Kritzeleien und seitenfüllenden Bildern. Das gibt Raum für künstlerische Experimente, die die Konventionen des Comics sprengen.

Dabei sind wir ganz dicht dran an Karens Erlebniswelt. Was sie erlebt, erleben wir durch ihre Augen - und durch ihre Hände über das, was sie zu Papier bringt. Sich selbst malt sie im übrigen wie ein kleines Trollwesen mit spitzen Eckzähnen. Nur an einer, sehr berührenden Stelle sehen wir, wie sie wirklich aussieht. Und mitunter schlägt die Geschichte surreale Haken.

Auf teures Equipment hat Ferris beim Zeichnen verzichtet. Zeitweise war sie obdachlos, als sie an diesem Buch gearbeitet hat. Jeder ihrer Kugelschreiber-Striche bleibt sichtbar und doch ergibt sich mitunter eine faszinierende Detailfreude: Manche der Bilder haben fast fotorealistische Anmutung, andere hingegen grenzen in ihrem Minimalismus ans Abstrakte. Die Schraffur mag an Robert Crumb denken lassen, die mitunter verstörende Körperlichkeit mancher Bilder an die großen Gemälde von Joe Coleman. Aber Ferris ist keine Epigonin, sondern eine neue, eigenständige und aufregende Stimme im Comic.

Kritik zuerst veröffentlicht auf dlfkultur.de
Emil Ferris: "Am liebsten mag ich Monster"
Aus dem Amerikanischen von Torsten Hempelt, Lettering Alessio Ravazzani
Panini, Stuttgart 2018
420 Seiten, 39 Euro

Weiterführende Links:
» Ein Comic über die Entstehungsgeschichte
» ein aufschlussreiches Interview
» weitere Besprechungen: CulturMag, Tagesspiegel, Jungle World

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